Durch Musik und Bewegung zu besserem Hören

 

Hören und Lauschen sind zentrale Themen für jede Musik- und Tanztherapeutin: Lauschen nach Innen, Lauschen nach Aussen. Gerade die Stille und die Musik sprechen sowohl hörende, als auch stark hörschwache Menschen an.  Von Wolfgang Fasser

Schon seit der Antike gehören Musik- und Tanztherapie zu den bewährten und weltweit praktizierten Heilkünsten. Bei seelischen und körperlichen Leiden werden Musik und Tanz auch heute vielseitig im präventiven und kurativen Bereich eingesetzt. Innere Erfahrungen werden in Hörbarem gestaltet und die Welt der Klänge ihrerseits findet wiederum Ausdruck in Wort, Bewegung, Bild und Emotion. Ein Einblick in die bemerkenswerte Welt dieses künstlerischen und therapeutischen  Schaffens.

Heilen und Helfen mit Musik

Die neuzeitliche Musiktherapie verfügt über zwei  sich wesentlich unterscheidende Teilbereiche: Die rezeptive Musiktherapie, wo live oder ab Tonträger gespielte Musik aufgenommen wird; dazu gehört auch das Belauschen von Hörereignissen in der umgebenden Klanglandschaft (sounscape) wie Vogelgesang, Wind, Wasser und von Menschen oder Maschinen erzeugte Geräusche. Die aktive Musiktherapie hingegen beschäftigt sich mit dem Gestalten von Klängen und dem Kreieren von Musik, im Sinne von Singen und Instrumentalspiel. Dabei ist es unwichtig, ob der Teilnehmende über musikalische Kenntnisse verfügt, oder nicht.

In der freien Improvisation wird mit Ton und Stille spontan komponiert, und der Musizierende ist Zuhörer seiner eigenen Musik. Zu Zweit oder in Kleingruppen entsteht darüber hinaus ein musikalischer Dialog, der zu klanglichen Gesprächen führt. Die Musiktherapie stellt sich sowohl psychologische als auch medizinisch-funktionelle Ziele, z.B.: Fördern der Bereitschaft zu Hören (auditive Aufmerksamkeit) oder Stärkung des Hörens im Störgeräusch durch musikalische Aktivitäten (auditive Selektion). Jede spezifische Horch-Schulung geht dabei mit der Entfaltung des Sprechens und Singens einher.

Aufgrund der Patientenangaben, der musiktherapeutischen Beobachtungen und medizinischer Informationen, kann von qualifiziert ausgebildeten Musiktherapeuten ein, auf die Person und ihr Beschwerdebild bezogenes, Vorgehen entwickelt werden.

«Hörenswürdigkeiten» und Horchpädagogik

Hören will gelernt sein. Obwohl uns das Hören und Lauschen selbstverständlich vorkommen, erfährt jedermann mit Hörschwierigkeiten schnell, dass Hören nicht einfach Hören ist. Nicht nur das Ohr bestimmt, was, wie, wann und wie viel man hört. Zusätzlich mitbestimmende Faktoren sind: Aufmerksamkeit, Interesse, Motivation, Hörgewohnheiten, Körperspannung und Klangentwöhnung – um nur einige zu nennen.

Aus den Erfahrungen der Klanglandschaftsbewegung heraus, entwickelten Musiktherapeuten hilfreiche Aktivitäten zur Förderung des Horchvermögens. Im gemeinsamen Hören von Tonaufnahmen natürlicher Geräusche und Klangereignissen, kann das Interesse für die akustische Umwelt geweckt werden. Zu zweit ist es einfacher, dem Hörereignis auf die Spur zu kommen und durch wiederholtes Hinhören im Erkennen differenzierter zu werden. Auch urbane Geräuschwelten eignen sich für solche Entdeckungsreisen. Besondere Anziehungskraft geht von geführten Horchwanderungen in der Stadt oder in der Natur aus. Sich im Freien bewegend, widmen sich die Beteiligten der  natürlichen Wirklichkeit von Tierlauten, Wind- und Wasserspielen und den, von Menschen erzeugten, technischen Geräuschen. Es handelt sich um praktische, erlebnisorientierte Erkundungen und um eine Erweiterung des Hörbewusstsein. Die Musiktherapeutin wird hier zur Horchpädagogin, welche – das Hörvermögen der Teilnehmenden berücksichtigend – auf die Hörereignisse aufmerksam macht. Diese sind hernach oft einfacher erkennbar und bestätigen Annahmen, wonach trotz vorliegender Hör-Defizite eine bessere Verarbeitung und Wahrnehmung des residualen Hörens stattfinden kann.

Horchwanderungen werden oft auch von „gut“ hörenden Menschen besucht, aus dem Wunsch heraus, wieder zu aktiv-hörenden Menschen zu werden und aus Freude am Lauschen in natürlichen Wirklichkeiten – heute schon fast eine Notwendigkeit, wenn wir an die stets präsenten, visuell dominierenden und akustisch begleiteten virtuellen Angebote denken.

 

Ton auf  Ton – Musiktherapie  bei Tinnitus

Zunehmend mehr Menschen leiden heute an unangenehmen Ohrgeräuschen, welche oft nicht behoben werden können und zu zusätzlichen Belastungen wie Konzentrationsschwäche, funktionelle Höreinbussen und Unlust am Lauschen führen. Musiktherapeutische Verfahren können in der akuten Phase helfen, die ersehnte Tiefenentspannung zu finden und «Hörenswürdiges» – durch den Tinnitus «hindurch» – wieder wahrzunehmen.

Das Erkennen der eigenen körperlichen und psychischen Spannungen und das Entdecken einer aktiven Krankheitsbewältigung, sind in diesem Moment hilfreiche Grundlagen, um die Krise konstruktiv anzugehen. Später ist kreative Beschäftigung mit Klängen, Singen, Musizieren und Tanzen eine wichtige Ressource, um der Horchdeprivation (Reaktion auf interne Störgeräusche), entgegen zu wirken. Der Verlust der Stille ist für Tinnitus-Betroffene schmerzlich. Gerade deshalb ist es wertvoll, sich aktiv dem Horchen nach „draussen“ (durch den unangenehmen Pfeiffton hindurch) zu widmen. So kann nicht selten die Dominanz des Störgeräusches gemindert und in den Hintergrund gedrängt werden.

Singen, erzählen und freies Musizieren 

Erfreulicherweise gibt es immer mehr musiktherapeutische Projekte für ältere Menschen, gerade auch für Hörgerätetragenden. In kleinen und grösseren Gruppen wird gesungen und musiziert. Lieder aus der „guten alten Zeit“ wecken viel Lebenskraft und hellen das Gemüt auf. Durch das Singen wird man bekanntlich eins, und es kommt zu erfreulichen Begegnungen unter den Teilnehmenden. Hörminderungen und Träger von Hörgeräten finden sich häufig in dieser Altersgruppe. Für diese Menschen ist musikalische Beschäftigung hilfreich, lernen sie doch, genau hinzuhören und werden berührt von den Klängen und der Musik. Der Weg dahin ist jedoch nicht nur einfach.

In Zusammenarbeit mit Akustikern und mit viel Geduld, können und sollen Hörgeräte optimal eingestellt werden, um Hörerfolgserlebnisse zu ermöglichen. Wer an einer eingeschränkten Hördynamik leidet, profitiert zu Anfang oft am meisten in Erzähl- und Lesestunden. Diese heiteren Aktivitäten werden in stillen Räumen durchgeführt und bringen die Teilnehmenden mit ihrer Stimme und ihrer improvisierenden Kreativität in Kontakt. Das hautnahe Erleben von musikalischen Darbietungen ist wertvoll. Es hat den grossen Vorteil, dass die im Raum Anwesenden, die Töne auch über ihren Körper empfinden und so ein ganzheitlicheres „Hör-Fühl-Erlebnis“ erfahren.

Das neue Hören mit Hörgeräten

Die Versorgung mit Hörgeräten ist eine Herausforderung für Gross und Klein. Im, von auditivem Lernen geprägten, oft länger dauernden Prozess, kann in der aktiven und rezeptiven Musiktherapie spezifisch auf die zu fördernden Teilleistungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung eingegangen werden. Hilfreich ist es, mit im ganzen Raum aufgestellten Instrumenten einfache musikalische Projekte zu kreieren und auditiver Richtungssinn, Lokalisation,sowie Raumorientierung zu üben. Musikalisches Ausprobieren des Intensitätsbereiches von „pianissimo“ zu „fortissimo“ beschäftigt sich kreativ mit Hördynamik. Das Singen mit instrumentaler Begleitung fordert und fördert die Fähigkeit des Wahrnehmens einer melodischen bzw. rhythmischen Figur auf harmonischem Hintergrund. Auch hier wird dem eigenen Erfinden von Klängen durch Körperperkussion, Sprechen, Singen und Instrumentalspiel grosse Bedeutung zugemessen. Man lernt so unter anderem die eigene Stimme besser kennen und erhält mehr Sicherheit in Intonation, Sprechmelodik und Rhythmus.

Musik- und Tanztherapeutische Förderung hörbehinderter Menschen

Im Film „Touch the sound“ wird auf beeindruckende Weise dargestellt, wie die weltberühmte, schottische Perkussionistin Evelyne Glennie trotz schwerster Hörbehinderung Grossartiges als Musikerin leistet. Diese Erfahrung gründet auf der Tatsache dass wir auch über den Körper Klänge wahrnehmen und «Hörfühlen» können. Bei mittelschweren und auch bei schweren Hörschädigungen hat die musiktherapeutische Arbeit das Ziel, dem Teilnehmenden über leibmusikalische Erfahrungen, das Wesen des Musikalischen im Allgemeinen wahrnehmbar zu machen.

Zusammen mit musikgestützten und musikgeleiteten Bewegungen bzw. Tänzen, können die der Sprache zu Grunde liegenden Themen wie Melodie, Rhythmus und Harmonie, Dynamik und Artikulation, exploriert werden. Dabei ist der eigene Körper das Bindeglied zwischen Musik und Sprache. Im besagten Film ermuntert die bewundernswerte Perkussionistin ihre Schülerin, welche Hörgeräte trägt, diese wegzulegen und den Ton mit all seinen vibratorischen und klanglichen Qualitäten, durch das Anlehnen an die Trommel, zu spüren.

Es gibt heute eine Vielfalt von sogenannten «Körperinstrumenten» wie z.B. das Klangbett, grosse Trommeln, Gongs und auch vibrierende Lautsprecher zum darauf sitzen. Auch informelle Instrumente wie aufgeblasene Luftballons, Wasserbecken, Bambusrohre etc. kommen zum Einsatz. Sie alle finden Verwendung in der ganz individuell abgestimmten Suche nach dem Klang.

Immer öfter kommt heute auch bei Kindern mit auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen die Musiktherapie erfolgreich zum Einsatz. Wer im Internet unter dem Stichwort «Kindermusiktherapie» sucht, dem eröffnet sich ein breites Spektrum an Informationen zu diesem Thema.

Kinder-Musiktherapie bei auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen.

Zunehmend werden im Schulalltag Kinder beobachtet, die an Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen im Hörbereich und an den daraus resultierenden Folgen leiden. Gemeinsam mit den betreuenden Fachkräften, der Lehrperson und der Familie unterstützt die Musiktherapeutin das Kind mittels musikalischer Projekte. Die verwendete Musik entstammt der Kinderwelt und genau so sind die oft sehr lebhaften, instrumentalen und gesanglichen Improvisationen gestaltet. Ähnlich wie in der Arbeit mit hörbehinderten Kindern wird versucht, durch gestaltetes Hören und frei improvisiertes, sowie vorgegebenes Spiel, „Hörenswürdigkeiten“ zu schaffen, an denen das Kind mit Leib und Seele interessiert ist. Die positive und freudvolle „Manipulation“ des Klanges und der Stimme birgt eine Vielfalt an Horch-Einladungen aller Art. So können durch allgemeine und  spezifische musiktherapeutische Erfahrungsfelder wichtige auditive Teilleistungen angesprochen und gefördert werden. Dabei achtet die Musiktherapeutin sorgsam  auf die Bereitschaft  des Kindes zum Hören und auf das Erfahren von Horch-Erfolgen. Kinder erleben Musik stets als einen Bestandteil des Ganzen. Deshalb sind spielen, verkleidet in andere Rollen schlüpfen, sich bewegen, zeichnen, bauen mit Gegenständen, schöpferische Prozesse, die auf natürliche Weise helfen, das Zusammenspiel der Sinne und der Bewegungen zu vereinen.

 

Wolfgang Fasser ist leitender Musiktherapeut des Kindermusiktherapie-Projektes „il Trillo“. Als Musik- und Physiotherapeut und Musiker beschäftigt er sich  auf vielseitige Weise mit dem Thema des Hörens und dessen Förderung. www.iltrillo.org

Als Dozent unterrichtet er zum Thema an institutionellen Fortbildungen, Kongressen und Seminarien in der Schweiz, Deutschland und Italien.