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Meine Blindheit: Grenzen und Möglichkeiten

„Sehbehinderte Menschen sind die Experten des Unsichtbaren und tragen mit ihrem Beitrag in der Gesellschaft gerade deswegen bei, eine vollkommenere Sicht des Lebens zu erlangen“. (Lusseran). 

Diese positive Feststellung des für mich wegweisenden französischen Philosophen und Autors prägte, seit meiner Erblindung als junger Mensch, die Annahme und Verarbeitung des persönlichen Sehverlustes. Darüber hinaus wurde sie zu einem selbsterfahrenen Grundsatz in der Haltung jeder Behinderung gegenüber. Ich glaube dass jede Form von behinderter Existenz eine Aufgabe in unserer Gesellschaft hat. Die Begegnung und die Fürsorge um dem „abnormalen und unperfekten Menschen“ lässt den Gesunden sein Glück erkennen, hilft ihm bescheidener zu werden und sich selbst und seine Sicht des Lebens zu relativieren. Die Hingabe an den Schwächeren,  dessen Wertschätzung und die würdigende Annahme seines Seins macht auch uns selbst menschlicher. Es ist oft sehr schwierig in dieser Begegnung nicht zu vergleichen, Anschuldigungen und negative Wertungen zu unterlassen. Schuld- und Schamgefühle sind sehr häufige Erfahrungen Behinderter, (Schmugge 2001) und ihrer Angehörigen. Gerade diese Bemühung in der Gesellschaft, dem Schwächeren im Allgemeinen seine Würde und Menschlichkeit anzuerkennen vermenschlicht den „Stärkeren“, (Tutu 2001). Auf der Ebene der reziproken Integration von Behinderten und Nichtbehinderten ist dies ebenso und schon deswegen eine wertvolle Herausforderung für den Einzelnen und uns als Gesellschaft. „Dem Nächsten Menschlichkeit gewähren macht uns menschlicher (Tutu 2001).

Das Thema der eigenen Behinderung, deren Bewältigung und die Behinderung des Patienten ist ein charakterisierender Faktor der therapeutischen Prozesse. Dies in direkter und indirekter Form, thematisiert oder „nur“ erlebt. Der Mensch der in meine Nähe tritt lässt sich auf eine Welt ein die Bekanntes und Unbekanntes birgt, eine Welt in der eine andere Wahrnehmungskultur, andere Werte und Einstellungen herrschen. Dieses Andersartige ist ein herausfordernder Reiz und ebenso eine Einladung zur Gleichgesinnung: „Er ist anders genau wie ich selbst“. Meine eigene offensichtliche Hilflosigkeit in bestimmten Momenten ist oft versichernd für Behinderte und hilft ihnen sich nicht unterlegen zu fühlen. Manchmal aber auch Quelle von Unsicherheit und Misstrauen und gerade das ist Aufforderung sich dem Ausserordentlichen anzuvertrauen. Dies ist wohl eine Hürde für ängstliche Patienten, in sich als Prozess jedoch bei dessen Gelingen heilungsunterstützend. Bekanntlich stärkt das Sich-Anvertrauen und das Überwinden von Ängsten die Selbstheilungskräfte. Die persönliche Leid- und Schmerzerfahrung ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Reifung des werdenden Therapeuten und ist ebenso wichtig wie die technisch-professionelle Fachausbildung, (Vörkel 1999). Ich erlebte oftmals dass eben diese Thematik, abgesehen von professioneller Qualifikation, zentrale Bedeutung hatte im Einschwingen der therapeutischen Beziehung und die notwendige vertrauensvolle Grundlage nährte.

Wie erleben die Kinder diese Situation? Wie die Erwachsenen? Welches sind die positiven Wirkungen? Welches sind die aus meiner Sehbehinderung entstehenden spezifischen Schwierigkeiten und Grenzen im musiktherapeutischen Handeln? Wie nehme ich mich selbst wahr, mit meinem „Nichtsehen“, in der therapeutischen Situation? Diesen Fragen geht dieser Text nach und möchte versuchen Licht und Schatten aufzuzeigen.

Meine Blindheit in der Begegnung mit kleinen Kindern.

Die Kinder die zu mir in die Musiktherapie kommen haben schon vorgängig von ihren Eltern gehört dass ich blind bin. Sind sie noch klein, das heisst bis 6 Jahre alt, deshalb können sie sich gar nicht richtig vorstellen was das Wort „blind“ bedeutet. Sie wissen, dass mit diesem Mann etwas Spezielles los ist. Der Erstkontakt beginnt meist mit etwas Scheuheit beiderseits. Der Kontakt muss erst entstehen, die Beziehung sich anwärmen und das auf-sich-gegenseitig-bezogen-sein wachsen. Es ist ja nicht selbstverständlich dass die Beziehung automatisch klappt und wir uns gegenseitig interessieren und mögen. So ist diese Phase schon durch die Natur des Phänomens der Entstehung der Beziehung geprägt und dazu kommt die neue Welt mit dem blinden Mann. Ich beobachte dass Kinder mich sehr wohl „inspizieren“ und ausprobieren wie sie es machen können um mit mir die Neugier und Spielfreude zu teilen. Dabei scheint für sie die Frage des Sehens und Nichtsehens keine primäre Bedeutung zu haben. Tatsächlich thematisieren sie dies in direkter Form selten. Ein 7- jähriges autistisches Mädchen zum Beispiel zeigt seiner Mutter an dass sie mit mir etwas erlebt hat indem sie sich die Hände vor die Augen legt und in Zeichensprache etwas kommuniziert. Oftmals reagieren die Kinder auf mich als ob ich sehen würde obwohl sie wissen dass ich nicht sehe. Meine Augen sind ja offen, lebendig und scheinen für den Betrachtenden zu schauen. So reicht mir Marco ohne weiteres ein Blatt Papier und die Malkreide um für ihn etwas zum Thema des Vokales O, den wir gerade üben, zu malen. Dies ist nicht schwierig für mich, raffiniertere Zeichnungen jedoch schon. Ebenso das kommentieren von Zeichnungen. Dazu suche ich den Weg via erkundigende Fragen an das Kind. Diese natürliche Selbstverständlichkeit im kindlichen Spiel ist auch Ausdruck der grossen Flexibilität und Unvoreingenommenheit der Kinder. So ist für sie Blindsein nicht automatisch auch nicht zeichnen können und nicht schreiben können. Gerade diese Offenheit dient mir als Zugang und hilft mir auf kreative und ganz funktionelle Art und Weise mit ihren eigenen Schwierigkeiten umzugehen.  Ich mache es mit ihnen ebenso wie sie mit mir. Ich hole sie ab wo sie sind, beschäftige mich mit jenen Interessen und Fähigkeiten die vorhanden sind und entwickle von da aus ein gestalterischer Dialog im Sinne des Förderplanes. 

Bei zunehmender Vertiefung unserer Beziehung entstehen typische Interaktionsmuster: 

  • die Stimme und die verbale Sprache werden häufiger benutzt, 
  • ein reziproker kommunikativer Körperkontakt mit intentionalen Gesten entsteht, 
  • Aufmerksamkeit mir und meinen Fortbewegungen im Raum gegenüber entsteht und dadurch eine Vertiefung der Wahrnehmung unserer räumlichen Organisation und das Erkennen von uns als getrennte Individuen die etwas gemeinsames machen.
  • es vertieft sich das Hören und Tasten im gemeinsamen Handeln.

Diese Erweiterungen des Wahrnehmungs- und Kommunikativ- relationalen Repertoires ist in vielen Förderungskonzepten behinderter Kinder gewünschtes und formuliertes Ziel. In diesem Sinne ist die besondere Situation auch als Teil der „vorbereiteten“ Umgebung zu sehen. Ein Setting in welchem aufgrund der Neugier und Spielfreude des Kindes wichtige Aspekte des Beziehungsgeschehens exploriert und ausgereift werden können.

Ein weiterer, positiv wirksamer Reiz sehe ich im „Missverständnis“. Es gibt Situationen in welchen ich ein Geschehen nicht in allen Facetten wahrnehme, es bleibt eine Zone der Leere. Kinder sind in der Regel achtsam auf nonverbale und verbale Gesten des Erkennens, und Bestätigungen des In-Kontakt-Seins. Fallen diese aus, kann das, wenn nicht zu häufig und bei spürbarem Interesse und Präsenz meinerseits, ein positiver Reiz sein um mich  deutlicher, in meiner Sprache aufmerksam zu machen. Indem mir das Kind erneut erläutert oder zu spüren gibt was es will, meint, oder vorhat, formuliert es sich klarer und vielseitiger. Es lernt zu insistieren mit seiner Meinung. Im musikalischen Dialog ist es die Phrase, die Melodie, die die Meinung darstellt, (Hegi). Dies stärkt die Ausdruckskraft und Flexibilität des Kommunikationsstiles. Mein Interesse ermutigt die Kinder sich die Zeit zu nehmen wirklich das auszudrücken oder zu zeigen was sie möchten und nicht beim ersten „Missverständnis“ aufzugeben. In bizarren Beziehungen mit sich und der Welt braucht es Geduld sich verständlich zu machen und verstanden zu werden. Die beidseitige Geduld und die Frustrationstoleranz bilden dann die Brücke in den Situationen von gestörtem Beziehungs- und Kommunikationsverhalten.

Sind die Miss- und Unverständnisse zu häufig oder derart stark, dass sie den gestalterischen Dialog verunmöglichen, muss ich meine Fähigkeit und entsprechende Bereitschaft diese Therapie zu leiten, hinterfragen. Phasenweise können Gefühle des sich nicht Adäquat-Fühlens Teil der Begegnung sein, Gegenstand von gegenseitigen Übertragungen. Diese Eindrücke sind sorgfältig zu reflektieren und von der grundsätzlichen Frage der persönlichen Kompetenz zu unterscheiden.

Der spontane vertrauensvolle Körperkontakt hat wichtige Handlung und Holding-Bedeutung und dient ganz im speziellen den motorisch behinderten Kindern als nährendes Erfahrungsfeld. Die Deprivation von vielseitigen Bewegungserfahrungen aufgrund der Lähmungen führt zu sekundären Bewegungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen und auch Sprachbehinderungen. Assistiertes Bewegen und Spüren von Bewegungsgestalten durch meinen Körper kann diese Deprivation auflockern und zu „Aha“-Erlebnissen führen, die zu Grundsteinen einer neuen Entwicklungsstufe werden. Marina erlernte in der Phase der Sprachanbahnung Wesentliches dadurch, dass ich ihr die Vokale mit meinen Händen in Trichterform auf den Rücken sang und später die Worte auf den Handrücken sagte. So spürte sie die Bewegungen meiner Lippen, den Luftstrom und seine Dynamik in Beziehung zum klanglichen Phänomen. Das hemiparetische Mädchen Luisella konnte mit 7 Jahren noch nicht gehen, beim Kriechen benutzte sie nur symmetrische Bewegungen der Beine und die Koordinationsdynamik von oberer und unterer Extremität war undifferenziert. Viele Stunden des von ihr vorgegebenen Spielens auf der Matte, szenisch dargestellte Tiergeschichten bis hin zum Reiten auf meinem Rücken halfen ihr den beiden unterschiedlichen Bewegungsmustern, symmetrisch und asymmetrisch gewahr zu werden. Ausgedehnte Rhythmusimprovisationen am Klavier, der Trommel und dem Holzboden führten zu der Annäherung von Rhythmen, dann zum Schaukeln in der Wolldecke mit Kehrreimen und festen Liedformen. Diese Lieder begleiteten uns später bei den ersten Gehübungen bei welchen Luisella auf meinen Füssen stand, mich umarmte und singend den Korridor beging. So ist der kommunikative Körperkontakt ein wichtiges Bindeglied in der fliessenden Integration von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache. 

Zusammenfassend möchte ich die Hypothese aufstellen, dass meine Blindheit für Kinder von 6 bis 8 Jahren kein relevantes Thema ist und ihnen als fördernde vorbereitete Umgebung dient.

Grössere Kinder gehen mit dieser Situation spielerisch um solange sie spielfreudig sind. Die anfängliche Scheu oder Unsicherheit dem Fremdartigen gegenüber ist deutlich wahrnehmbarer. Einmal vertraut geworden beginnen sie mich zu fragen: Wie kannst du denn schreiben und lesen? Wie weisst du was du anziehst? Wie kannst du kochen? Wenn du einkaufen gehst, wie findest du denn das was du willst im Laden? Und Dusty…….? Gerade diese Fragen dienen mir als Brücke zu ihnen. Ich spreche ganz offen zu ihnen, antworte auf ihre Fragen und frage sie auch warum sie das interessiert, was sie sich vorgestellt hätten etc. So wird diese Neugier zum verbindenden Element. Meine Offenheit hilft ihnen sich mir zu öffnen und so können wir auch natürlicher über ihre Schwierigkeit (der Grund warum sie zu mir kamen), sprechen und damit umgehen.

Geistig behinderte Erwachsene, die auf kindlichem Entwicklungsstand geblieben sind, reagieren durchwegs wie die Kinder. Ich stelle häufig fest dass gerade sie im Alltag, im sozialtherapeutischen Zentrum und auch in der Musiktherapie-Gruppe unter sich eine bewundernswerte Flexibilität an den Tag legen jeden so zu nehmen wie er ist und einen gemeinsamen Nenner zu finden. Ihre Fähigkeit im nonverbalen Kommunikationsbereich natürlich und entspannt miteinander umzugehen kann in uns „Normal- Befähigten“ sogar Neidgefühle wecken. 

Meine Blindheit in der Begegnung mit Erwachsenen

„Normalfähige“ Erwachsene reagieren erwachsener mit diesem Thema. Sie sind durchwegs respektvoll, zurückhaltend und bemühen sich initial ihre Neugier zurück zu halten. Es kommt vor dass Unsicherheit und Verlegenheit ihrerseits geäussert werden. Selten, meist nur am Anfang der therapeutischen Begegnung oder im Moment der Krise konnte ich Misstrauen mir und oder der Situation gegenüber wahrnehmen. Dieses Misstrauen zeigte sich als einfache Reaktion auf das Unbekannte oder auch als unspezifische Reaktion auf den Krisenmoment des Patienten. Erwachsene glauben eher an den Mythos über  Blinde und haben neben Vorstellungen der Imperfektion auch komplett gegensätzliche, überhöhte Vorstellungen unserer Fähigkeiten. Es besteht eine kollektive Idee dass der Blinde mehr sieht als der Sehende. Das Urteil eines Blinden wiegt oft mehr als eine klinische Untersuchung oder das Urteil eines Sehenden. Als ob jenes einen grösseren Wahrheitsgehalt hätte. So suchen mich häufig Menschen  auf um meine Meinung zu einem körperlichen Problem einzuholen. Wenn ich ihnen dann, aufgrund der Anamnese und meiner Untersuchung aufzeigen und erklären kann was sie haben, und dadurch auf das gleiche Resultat wie die Magnetresonanz komme, bedeutet dies „Wahrheit“ für sie. Dem Blinden werden auch magische und ausserordentliche Fähigkeiten zugeschrieben. All diese volkstümlichen, im kollektiven Imaginario verankerten Vorstellungen und Bilder, können unserer Begegnung sowohl hilfreich dienen als auch im Wege stehen. Ich versuche absichtlich den Idealisierungen und Überhöhungen entgegen zu wirken, vor allem die persönliche und fachliche Begegnung im Zentrum zu sehen und gehe auf meine Blindheit nur ein, wenn dies ein Thema wird das dem therapeutischen Prozess dienlich ist.

Erwachsene schöpfen oft Mut für ihr eigenes Leben aus der Begegnung mit mir. Dies entnehme ich der häufigen Aussage: „Seit ich hierher komme und Sie erlebe sag ich mir, wenn er als blinder Mensch es schafft sein Leben positiv zu gestalten so kann ich es auch“.

Scheue Menschen fühlen sich oft freier in meiner Gegenwart. Im positivsten Sinne wurde mir schon anvertraut: „Wissen Sie, es ist so gut dass sie mich nicht sehen können, ich hätte sonst grosse Hemmungen mich zu zeigen“. Schon dieses Geständnis ist eine grosse Vertrauensoffenbarung und hilft, wie schon erwähnt, der Erweckung von Selbstheilungskräften.

Mein Blindsein hat auch den positiven Effekt mir ein wenig „Narrenfreiheit“ zu schenken. Ich MUSS nicht „normal“ sein. Wenn es mir gelingt diese Situation auszukosten wirkt sie ansteckend und unterstützt die Authentizität des Anderen. „Echt ist echt!“. Normalbegabte Erwachsene sind oft in formellen, antikreativen Verhaltensformen gefangen. Das Lösen dieser Strukturen und das Ausweiten in kreative Formen ist oft ein positiver Nebeneffekt unserer Begegnungen.Darf dies geschehen freut es mich besonders. 

Speziell bei Erwachsenen kann ich feststellen dass die ausserordentliche Situation einen Reiz zum Wachsein darstellt. Unsere Begegnung fällt aus der Norm, sie ist etwas Spezielles und kann gerade dadurch mithelfen aus den gewohnten alltäglichen Wahrnehmungs- und Beziehungsmustern temporär auszusteigen. Dadurch werden neue Einsichten und Erfahrungen bezüglich sich selbst und der Art und Weise wie man auf den Anderen und die Umwelt zugeht, ermöglicht. Ein vordergründig belangloser Moment kann zu einem Wegweiser in der persönlichen Entwicklung werden.

Natürlich ist es schwierig zu unterscheiden, was in der Begegnung mit dem  Anderen spezifisch auf meine Blindheit zurückzuführen ist und was sich auf mich als Person bezieht. Mein persönlicher Stil der Bewältigung des Handicaps ist zwar durch die Sehbehinderung erforderlich geworden, zeigt aber nicht nur blindenspezifische Elemente sondern zeigt mich auch als Menschen und wie ich persönlich mit dieser Aufgabe umgehe. Manchmal  scheint es mir, dass Patienten in schwierigen Situationen, sich neben der Therapie der Beschwerden auch mit eben diesem persönlichen Bewältigungs Stil auseinandersetzen und ihre Möglichkeiten mit der eigenen Krankheit überdenken. Ein aktives Sich-Auseinandersetzen, ein Verhalten, das emotionelle und soziale Ressourcen mobilisiert, hat bekanntlich positive Effekte auf den Verlauf einer Krankheit. Ich erlebe dass ich dadurch, für Menschen die unsicher sind wie sie mit ihrem eigenen Problem umgehen können, eine Modellfunktion habe.

Wie erlebe ich mich selbst in der Begegnung mit den Patienten?

Im eigenen Atelier fühle ich mich zu Hause. Viele Stunden des Einrichtens, Arbeitens und auch Putzens lassen mich die Räume kennen wie meine eigene Hosentasche. So bewege ich mich frei, ohne Stock oder Hund, ganz wie ich will. Dies lässt mich sicher fühlen was eine unverzichtbare Grundlage ist um mit Heiterkeit therapieren zu können. Diese Natürlichkeit hilft auch den Patienten sich sicher zu fühlen. Jede neue Begegnung ist für mich eine Herausforderung: Kommen wir in Kontakt? Wird der Mensch sich mir anvertrauen? Ist der Patient so beweglich dass er sich auf diese Welt einlassen kann? Werde ich fähig sein in der nonverbalen Sphäre genügend wahrnehmen und kommunizieren zu können? (Zum Beispiel mit einer sprachlosen, tastscheuen, 

autistischen Person). Nachfolgend ein Beispiel einer geglückten, reichen Begegnung mit einem mehrfachbehinderten, sehgeschädigten Kind.

Szenen aus der Musiktherapie mit Marina:

Ich bin eben am Vorbereiten des Zimmers als Luigi mit Benedetta und dahinter Cesarina durch die offene Haustüre eintreten. Es ist warm draussen und die Vögel singen vergnügt. Ich grüsse sie aus dem Studio heraus und fordere sie auf noch einen Moment zu warten. Sie bleiben im Vorzimmer stehen und B. macht ungeduldige Laute. Sie zeigt damit an, dass sie eintreten möchte. Warte sagt die Mutter und ich rufe ihr zu: Es ist bald soweit.

Ich bitte sie ins Studio und setze mich hin. Die Mutter setzt sich gegenüber auf den Boden und B. hat sie vor sich hingesetzt. Der Vater sitzt auf der Türschwelle. 

Aouu Benedetta, sage ich und neige mich zu ihr runter. Aouu, antwortet sie. Ich reiche ihr die Hand und sie nimmt sie mit ihrer Rechten. Ah so schön, sagst du Grüss Gott, bemerke ich und sie neigt ihren Kopf über meine Hand. Sie lutscht und knabbert ein bisschen mit den Zähnen daran. Nicht beissen, sagt die Mutter. B. reagiert nicht und ich lasse sie, da sie nicht beisst. Es rührt mich ihren sanften warmen Mund auf meiner Haut zu spüren. Kommst du zu mir, frage ich und sie sagt, hmm. Ich nehme sie auf meinen Schoss und lege den Spielsack vor sie hin.

Szene 2:

Ich reiche mit der Hand dem Boden nach gegen das Kind das stumm vor mir sitzt und berühre seinen Fuss. Es trägt heute Socken. Ich grüsse es mit einem Hände-Fussdruck und sage, auuu Benedetta. Auu sagt sie und hebt ihren Kopf an und wendet sich gegen mich. Vorher war sie weit vornübergeneigt. Bist Du gekommen um mich zu besuchen, frage ich und sie antwortet mit warmer mittellauter Stimme hmmm, was ja heisst. Ich reiche ihr meine Hand und spüre wie auch sie ihre rechte Hand suchend nach mir ausgestreckt hatte. Sie spielt mit meinen Fingern, so auch ich. Sie neigt sich erneut vornüber und ihr Kopf berührt meinen entblössten Vorderarm. Ihre Haare fallen darüber. Sie riechen verschwitzt und ich streiche ihr über den Kopf. Sie lutscht an meinem Handrücken und knabbert ganz fein daran. Ich bin innerlich bewegt von ihrer Sanftheit und spüre Wärme, Nähe und schmerzliche Trauer. Wir verweilen, im Raum ist es absolut still, es ist ein Moment von Berührtheit und Erwartung.

Ich neige mich zu Benedettas Kopf hinunter und verweile einige Momente still mit ihr. Wir sind beide im Schneidersitz und nun ganz vornübergeneigt. Ich habe vor, mit  den kürzlich begonnenen präverbalen Spielen weiterzufahren, vor allem da sie letztes Mal so aktiv und begeistert mit ihrer Stimme spielte. Spielen wir etwas mit der Harfe Benedetta, frage ich sie. Mit einem kurzen entschiedenen Ruck richtet sie sich auf und sagt kräftig Hmm. Klar und scharf abgesetzt. 

Szene 3:

Ich stehe im vorbereiteten Behandlungszimmer und spreche am Telefon. Kurz erkläre ich der Anruferin, dass ich nun das Gespräch beenden und mich der ankommenden Familie widmen werde. Im Moment in dem ich den Telefonhörer aufhänge treten Luigi mit Benedetta und dahinter Cesarina mit Franziska in das Vorzimmer. Ich begrüsse Sie. Wie sagt man, Bibi? fragt der Vater und Bibi sagt mit etwas zerdrückter Stimme Aouuu. Die Mutter sagt: Heute bleiben Franziska und ich hier am Tisch und machen noch etwas Hausaufgaben. Wir hatten keine Zeit mehr bevor wir hierher kamen. Ja bitte, sage ich etwas erstaunt und denke mir: Schau an wie die Beiden nun auf die Rückweisung Benedettas während den vorangegangenen Sitzungen reagieren. Vielleicht hat es aber auch nichts damit zu tun. Ich trage noch einen zusätzlichen Stuhl aus dem Studio hin. Die Mutter bedankt sich und meint es wäre nicht nötig gewesen, sie könnte gut auf dem Kaminsims Platz nehmen. So arbeitet ihr doch bequemer sage ich und überlasse die Beiden ihrem Vorhaben. Die Lampe über dem Tisch leuchtet und spendet ein warmes Licht. Der chinesische Hut, der als Lampenschirm dient, wirft vielerlei geometrische Schattenfiguren an die rustikale Holzdecke, was die Mutter sofort bemerkt. Der Raum ist voll von Lavendel Duft. Ein Blütenkranz den ich geflochten hatte hängt am Kaminbrett und verbreitet den wohlriechenden unverkennbaren Geruch. Ich trete in das Studio und schliesse die Türe hinter mir. Luigi hat sich schon vorbereitet mit B. Ich gehe davon aus, dass er, wie sonst Cesarina, sich hingesetzt hat, mit dem Kind zwischen seinen Beinen. Mit drei Schritten bewege ich mich am rechten Mattenrand entlang auf meinen üblichen Platz und setze mich hin. Beim Berühren der Matte kommt mein Ringfinger spontan in die rechte Hand von B. zu liegen. Sie schliesst unmittelbar die Hand und hält mich am Finger. Aouu sagt sie. Ah, du liegst auf dem Kissen sage ich erstaunt. Der Vater hatte sie rücklings mit dem Kopf auf dem Kissen hingelegt um ihr die Schuhe auszuziehen. Ich freue mich über den Zufall der vielleicht doch nicht so zufällig war. Habe ich unbewusst wahrgenommen wo sie lag? Ich kann also darauf vertrauen, dass es noch andere Wahrnehmungsebenen gibt die mich leiten. Heute habe ich das initiale Unsicherheitsgefühl nicht. So gehen mir diese Gedanken durch den Kopf. Nun ist sie soweit sagt Luigi und legt einen Schuh mit Geräusch auf den Tonplattenboden.

Diese anfängliche Unsicherheit, sie ist meist gut tolerierbar, ist geringer bei Kurzzeittherapien. Es handelt sich meist um Erwachsene die gute relationale und kommunikative Fähigkeiten besitzen. Menschen jedoch, die von sich aus wenig oder nicht auf mich zu gehen, kaum oder nicht sprechen fordern mein Selbstvertrauen stärker heraus. Ganz besonders wenn sie sich kontaktablehnend, passiv und regungslos verhalten. Wer sich bewegt und agiert, erkenne ich aufgrund der Geräusche, wer aber still und regungslos, schweigend ist ,konfrontiert mich mit der Leere. Es fordert Mut und Kraft diese Momente auszutragen. (Benedetti 1998: Austragen meint: die Fähigkeit diese Zustände auszuhalten ohne  weder die Motivation zu verlieren noch Insuffizienzgefühle zu entwickeln). Die Anfangsphase jeder therapeutischen Begegnung in welcher das Beziehungsgeschehen eine zentrale Rolle spielt, ist auf das In-Kontakt-Treten ausgerichtet um dadurch in Beziehung zu kommen. In der Begegnung mit Menschen die an psychotischen oder autistischen Störungen leiden ist das initiale Beziehungs Geschehen oft durch eine starke Fragmentation gekennzeichnet und ich bin streckenweise mit viel Leere, Kontaktlosigkeit und Nicht-Wahrgenommen-Werden konfrontiert. In diesen Situationen stelle ich mir vor, dass Sehen können entlastend für mich sein könnte. Meine Erfahrungen zeigten mir jedoch, dass das Austragen der Leere, das Hinspüren an das Atmosphärische und das urteilsfreie Offensein für die Kontakt- und Beziehungsfragmente tatsächlich eine beständige Bezogenheit entstehen lassen können. Dabei lernte ich wie wichtig es ist meine eigenen Gefühle zu bewohnen und ganz in mir zu ruhen. Oft gibt es dissonante, bizarre Begegnungen. Diese wiederum lösen in mir Gefühle von Unsicherheit und Spannung aus, manchmal Angst. Angst vor dem Mich-Verlieren und dem Nicht- standhalten-Können gegenüber destruktiven Seiten der Patienten und meinerseits etc. Deshalb ist meine persönliche Schattenarbeit in entsprechenden Lehrmusiktherapeutischen Settings für meine Psychohygiene und Entwicklung von grosser Hilfe.

Meine Blindheit konfrontiert mich auch mit klaren Grenzen. Wie an anderer Stelle erwähnt, ist es für mich unmöglich als alleiniger Musiktherapeut eine Gruppe von mehr als 4 Patienten aufmerksam und ausgeglichen leiten zu können. Das Beziehungsgeschehen ist zu komplex und die irritierenden Faktoren zu viele um die unauffälligen Interaktionen wahrzunehmen und der Gruppe gerecht zu werden.

Ebenso bin ich limitiert im Hören von Musik bei hoher Lautstärke. Wenn die Musik die unsrigen Geräusche und deren Widerhall im Raum (sonorer Schatten) überdeckt, fehlt mir eine wichtige Wahrnehmungsebene. Bei lauter Musik bin ich, wenn ich den Patienten nicht berühre, auf das Spüren der Atmosphäre und meiner eigenen Emotionen und Intuitionen angewiesen. In dieser Dimension kann man zwar wichtige emotionelle und symbolische Inhalte wahrnehmen, was aber räumlich, bewegungsmässig und im Handeln vor sich geht, ist nicht oder nur der Spur nach zu erkennen. In stabilen, reichen Beziehungen kann ich mich wohl solch einer Erfahrung hingeben, zum Beispiel im Spiel um die Intensität und Impulskontrolle.

Da ich mit auch mit meinen Ohren schaue werde ich bei zu lauten Umweltgeräuschen und Musik blind. Das heisst, mein Hören ist sowohl auf das Hören als auch auf das Erfassen und Übersetzen des Geschehenen ausgerichtet. Wohl bin ich dies gewohnt, stelle jedoch fest dass es zusätzlich Energie kostet und ich entsprechende Ruhezeiten benötige. Mit Zunahme der musiktherapeutischen Arbeit stelle ich fest dass mein Erholungsbedürfnis grösser wird. Diese Feststellung ist von Bedeutung für die Planung der Arbeits- und Ruhezeiten, möchte ich doch in einem genügend ausgeglichenen Allgemeinzustand sein, offen, beziehungs- und resonanzfreudig und zugleich die Kraft haben mich, wenn nötig, vom Geschehen abgrenzen und unterscheiden zu können. 

Heute ist meine Arbeit vorzugsweise auf Einzeltherapien ausgerichtet. Im Laufe der Zeit werden sich Möglichkeiten und Grenzen die ich durch meine Blindheit im musiktherapeutischen Erkennen und Handeln erfahre, vielseitiger darstellen lassen und sich im persönlichen Arbeitsstil niederschlagen.