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Sechs Sinne

Ohne Bewegung gibt es keine Wahrnehmung ā€“ Warum der Tanz am Anfang aller KĆ¼nste steht

von Irene Sieben

Am Anfang war Bewegung. Durchaus kein Widerspruch zum Bibelwort des Johannes ā€žIm Anfang war das Wortā€œ, (wenn auch hier der Klang als Ursprung gemeint sein wird) . Denn was uns hƶren, riechen, schauen, schmecken, spĆ¼ren und also wahrnehmen lƤsst, was in der AuƟenwelt geschieht, setzt zuallererst Bewegung voraus: als Schwingung, die den Klang erkennt und transportiert, als zellulƤren Impuls, der jedes Rendezvous von Ei- und Samenzelle erst ermƶglicht, Sinneszellen wachsen lƤsst und die neuronalen Schaltkreise fĆ¼r das psychische und physische Erfassen der Innenwelt auf wunderbare Weise vernetzt. Bewegung setzt die Wahrnehmungsdynamik zwischen allen FĆ¼hlkƶrperchen des Organismus in Gang. Verdichtet finden wir sie im Kopf als paarweise nach auƟen orientierte Telerezeptoren ā€“ Ohren, Augen, Mund, Nase ā€“ und verteilt Ć¼ber den Mantel der Haut als Tastkƶrperchen. Versprengt aber auch Ć¼ber alle Sehnen, Muskeln, BƤnder, Gelenke, Organe, DrĆ¼sen und GefƤƟe als Propriozeptoren, kinƤsthetische Rezeptoren, Interozeptoren, Spindeln, Ruffini-Endgeflechte und Golgi-Kƶrperchen, die zur TiefensensibilitƤt von Bewegungswahrnehmung und -erzeugung, Orientierung im Raum und Schwerkraftempfindung Ć¼berlebenswichtig sind.

Um uns unserer selbst bewusst zu werden, brauchen wir Bewegung und BerĆ¼hrung. Wie intensiv beides miteinander verwoben ist, zeigt sich daran, dass die Gewebe des zentralen Nervensystems und das der Haut, also innerste und ƤuƟerste Struktur, aus dem gleichen ā€žStoffā€œ gemacht sind: aus dem Ektoderm, dem ƤuƟeren der drei KeimblƤtter des Embryos. Zum Zeitpunkt der Geburt beschrƤnken sich die Nervenzellnetzwerke vor allem auf jene Areale der GroƟhirnrinde, welche die Tast- und BerĆ¼hrungsempfindungen sowie Bewegungsmuster der Muskulatur reprƤsentieren, wie der Psycho-Neuroimmunologe Joachim Bauer erforschte. Die Entwicklung von FĆ¼hlen, Denken und Handeln verlaufe parallel mit der Entstehung von Nervenzell-netzwerken des Gehirns; diese entstehen durch Verschaltungen, mit denen die Ć¼ber 20 Milliarden Nervenzellen des Gehirns verknĆ¼pft sind. SpĆ¼ren, FĆ¼hlen, Denken und Handeln einerseits sowie neuronale Netzwerke andererseits stehen somit in wechselseitiger AbhƤngigkeit. Diese neue Sichtweise einer Netzwerkorganisation lƶst in der Neurowissenschaft die These der stammes- geschichtlichen Dreiteilung des Gehirns ab. Auf dieser hierarchischen Lehrmeinung, nach der die Hirnrinde die hƶchstentwickelte Hirnregion ist, bauten unzƤhlige Theorien auf. Die Hirnentwicklung ist ā€“ wie der Wissenchaftshistoriker Olaf Breidbach formuliert ā€“ ein integrativer, fortlaufender Entwicklungsprozess, ohne oberen ā€žBefehlsstandā€œ. Unser Denken und FĆ¼hlen beruht also auf Kommunikation und Kooperation. Allerdings kann es, so der Avantgardist und Philosoph unter den Neurowissenschaftlern, Antonio Damasio, eine Spezialisierung bestimmter Areale geben.

Traditionell werden fĆ¼nf Sinne genannt, durch die der Mensch seine Beziehung zur AuƟenwelt knĆ¼pft, ohne dass der Intellekt dabei stƶrt: Gehƶr, Geruch, Geschmack, Gesicht und GefĆ¼hl. Das Buch ā€žDie fĆ¼nf Sinneā€œ von 1978 nagelt sich noch auf diese Sichtweisen fest. Der Begriff Bewegung oder KinƤsthetik kommt im Sachregister gar nicht vor und in den Texten nur unter ā€žferner liefenā€œ. Seit der Renaissance wird der fĆ¼nfte der Sinne einerseits als TastgefĆ¼hl definiert, das die Empfindung von WƤrme, KƤlte, Schmerz vermittelt, anderseits als RaumgefĆ¼hl. Gemeint ist dabei die Ordnung im dreidimensionalen Raum. Den Eigenbewegungs- oder kinƤsthetischen Sinn bringt erst die neuro-psychologische Forschung ins Blickfeld. Mehr als alle anderen Sinne hat er mit dem GefĆ¼hl fĆ¼r sich selbst zu tun ā€“ und mit Erfahrung. Dass er als ā€žsechster Sinnā€œ das Schlusslicht bildet, gaukelt eine Rangordnung vor. Als sei die Bewegung ein Resultat des SpĆ¼rens. Aber: Das Gegenteil ist der Fall. Bewegungswahrnehmung ist der erste Sinn, der sich entwickelt. Den Beweis liefert die Entwicklungsgeschichte selbst.

Die amerikanische Bewegungsforscherin Bonnie Bainbridge Cohen ā€“ die sich selbst als ā€žpattern-seerā€œ (jemand, der Muster sieht) und ā€žshape-changerā€œ (jemand, der Formen verƤndert) typisiert ā€“ ist selbst 20 Jahre ihres Lebens dieser Annahme gefolgt, dass die Sensorik die Motorik in Gang setze. Ihre wichtigsten Tanz- und Bewegungslehrer ā€“ Erick Hawkins, AndrĆ© Bernard und Barbara Clark ā€“ brachten ihr bei, dass ihre motorischen Reaktionen reorganisiert werden, wenn sie nur ihre Sinneswahrnehmung verƤndere. Das stimmt aber nur zum Teil. Als sie las, dass es die motorischen Spinalnerven sind, die in der Entwicklung des Fƶtus als erstes mit der fettigen Myelinschicht ā€žeingescheidetā€œ, also funktionsbereit werden, bevor noch die sensorischen Nerven reifen, schien das fĆ¼r sie alle ihre Konzepte Ć¼ber den Haufen zu werfen. ā€žEs machte fĆ¼r mich Ć¼berhaupt keinen Sinn und widersprach all meinem Training. Aber schlieƟlich habe ich erkannt, dass wir Bewegung brauchen, um Feedback Ć¼ber Bewegung zu bekommen. Jede Erfahrung schafft die Basis fĆ¼r nachfolgende Erfahrungen. Bewegung verhilft dazu, den Wahrnehmungsprozess in Gang zu setzen.ā€œ (Bonnie Bainbridge Cohen in ā€žSensing, Feeling and Actionā€œ)

Diese RĆ¼ckkoppelungsschleife von aktivem SpĆ¼ren Ć¼ber die Sinne, die Interpretation des Wahrgenommenen bis zur motorischen Planung und AusfĆ¼hrung und zurĆ¼ck zur sinnlich gespĆ¼rten Antwort darauf wurde in ihrem erlebnisorientierten Verfahren Body-Mind Centering ein entscheidender Faktor: Sinneswahrnehmung ist eine aktive Handlung und kein passiver Zustand, setzt also Bewegung voraus. Dabei legt Cohen Wert auf Differenzierung zwischen den Begriffen SpĆ¼ren (sensing) und Wahrnehmen (perception): ā€žSensing ist ein mehr mechanischer Aspekt, der das Stimulieren der sensorischen Rezeptoren und der sensorischen Nerven betrifft. Perceiving bedeutet die persƶnliche Beziehung zu der ankommenden Information. Wir alle haben Ƥhnliche Sinnesorgane, aber unsere Wahrnehmung ist vollkommen einzigartig. Wahrzunehmen bezeichnet den Umgang mit dem, was wir spĆ¼ren. Wahrnehmen knĆ¼pft Beziehungen: zu uns selbst, zu anderen, zur Erde, zum Universum und zwischen Sensorik und Motorik.ā€œ Im ersten Lebensjahr entscheide sich, wie die Beziehung des Wahrnehmens ā€“ die Art, wie wir etwas sehen- und des motorischen Prozesses ā€“ die Art und Weise wie wir in der Welt agieren und uns bewegen ā€“ sich manifestiert. Das sei die Basis dafĆ¼r, wie wir im spƤteren Leben Erlebtes verarbeiten, wie wir es aufnehmen oder uns ausdrĆ¼cken. Und ob wir Wahlmƶglichkeiten haben beim Lƶsen von Problemen.

Dass die wissenschaftliche Forschung mit ihrem Anspruch an Objektivierung sich gerade mit der Bewegungsempfindung, also mit Erfahrungswissen, schwer tut, spiegelt ein historisches Dilemma wider. Die UnterdrĆ¼ckung kƶrperlicher Empfindung hat in der westlichen Kultur soziale, politische und religiƶse Vorstellungen nachhaltig geprƤgt. Die Sinneswahrnehmung von Bewegung und Organfunktion in die objektive wissenschaftliche Wirklichkeit zu integrieren, ist nach wie vor Neuland. An UniversitƤten werden zwar Bewegungswissenschaften gelehrt, per Vorlesung oder Video, erfahren werden sie nicht. Erfahrung ist nicht wissenschaftlich. Erkenntnisforscher und Psychologen haben erst begonnen, diesen Schatz zu heben. Dass sich Erkenntnis nicht jenseits konkreter Erfahrung abspielen kann, davon wussten erdverbundene Theoretiker und Pragmatisten unter den Philosophen, etwa der ReformpƤdagoge John Dewey, schon vor 100 Jahren. In seinem soeben ins Deutsche Ć¼bersetzten SpƤtwerk ā€žDie Theorie der Forschungā€œ von 1938 bekrƤftigt er, dass alle Erkenntnis eine Form des Handelns im Leben von sinnlich wahrnehmenden Wesen ist und vor allem darin besteht, stƤndig neue Normen des Vorgehens in der Erfahrung zu erzeugen und alte zu variieren. Dewey verleiht der Erfahrung gar Ƥsthetischen Wert. Damasio betont, dass erst mit dem FĆ¼hlen dessen, was geschieht, wenn wir sehen, hƶren oder tasten, das Bewusstsein beginnt. ā€žEtwas strenger formuliert, handelt es sich um das GefĆ¼hl, das die Erzeugung jeder Art von Vorstellung ā€“ egal ob visueller, auditorischer, taktiler oder viszeraler Art ā€“ im Organismus begleitet. Im richtigen Kontext macht dieses GefĆ¼hl die Vorstellungen kenntlich als zu mir gehƶrig und ermƶglicht mir die Aussage, dass ich ā€“ in der vollen Bedeutung des Wortes ā€“ sehe, hƶre oder taste.ā€œ Lernen und neuronale PlastizitƤt kƶnnen sich dann entfalten, wenn die Aufmerksamkeit aktiv gerichtet ist, die gegebenen Reizkonstellationen im Kontext als ā€žinteressantā€œ bewertet und Bestandteil entsprechender Feedbackschleifen sind.

Doch zurĆ¼ck zur Entstehung der Sinnesnetzwerke. Gewebe strukturieren sich nach ihrer Wichtigkeit fĆ¼rs Ɯberleben. Dass es der Vestibularnerv im Innohr (im knƶchernen Labyrinth) ist, der sich als erster der zwƶlf Paare von SchƤdelnerven entwickelt, noch bevor das Ohr seine HƶrfƤhigkeit ausbildet, zeigt, dass seine Funktion essentiell ist fĆ¼r die Fortentwicklung der Art. Der Mensch lernt also zunƤchst durch die Bewegungswahrnehmung. Der Bewegungssinn schult und entwickelt damit die Feinstimmung aller anderen Sinne. Das Vestibular- oder Gleichgwichtssystem hat verschiedene Funktionen. Der Physiker Moshe Feldenkrais bezeichnet es als ā€žKoordinationszentraleā€œ. Wahrgenommen und lokalisiert werden hƶchst prƤzise Ć¼ber Propriozeptoren, Interozeptoren und kinƤsthetische Rezeptoren die muskulƤre und viszerale Bewegung, die Lage der Kƶrperteile zueinander und das Gleichgewicht des Organismusā€˜ in Schwerkraft, Raum und Zeit, ob in schnellen Drehbewegungen oder in linearer Beschleunigung. Mit der Ausbildung des pyramidalen Systems, der Verbesserung der Differenzierung, der Orientierung von Kopf und Kƶrper und der WillensaktivitƤt sortiert das System die Signale, die vom Kƶrper und von der AuƟenwelt kommen und erkennt ihre Herkunft.

Im Labyrinth wird auch der Muskeltonus reguliert. Die enge VerknĆ¼pfung vestibulƤrer Bahnen mit den Augenmuskelkernen, die entdeckt wurde, erklƤrt auch ihren Einfluss auf die Spannung der Strecker im Kƶrper, speziell der Halsmuskulatur und damit der Haltung. Feldenkrais bezeichnet in seinen ersten VortrƤgen von 1943, zusammengefasst in ā€žBody and Mature Behaviourā€œ (Das reife Selbst), den kinƤsthetischen Sinn als hauptverantwortlich fĆ¼r den aufrechten Gang des Menschen, denn ohne justierendes, stetig regulierendes Ausbalancieren durch das Wahrnehmen kleinster Differenzen bei niedrigstem Muskeltonus ist der Antischwerkraft-Mechanismus der aufrechten Haltung nicht erfolgreich. Die Unterscheidung zwischen dem Selbst und der AuƟenwelt sieht er als wachsende Funktion und ist so bereits bei der Vernetzungstheorie. Das Gros der Reize, die im Nevensystem ankommen, stammt ja aus den AktivitƤten der Muskulatur, die stƤndig durch die Schwerkraft beeinflusst werden. Deshalb ist die Kƶrperhaltung einer der besten SchlĆ¼ssel nicht nur zur Evolution, sondern auch zur HirnaktivitƤt. Feldenkrais: ā€žIch habe keinen Zweifel daran, dass die motorischen Funktionen und vielleicht die Muskeln selber, wesentlicher Bestandteil der hƶheren Funktionen des Menschen sind.ā€œ Zu denen zƤhlt er das Singen, Musizieren und Malen ebenso wie das Lieben, Denken, Erinnern und das GefĆ¼hl.ā€œ Kein Wunder, dass das Muskelsystem heute als ā€žgrĆ¶ĆŸtes Sinnesorganā€œ bezeichnet wird (Henning Engeln in GEO Wissen Mai 1994).

Alfred A. Tomatis, Forscher des Hƶrens, weiƟ, dass der Fetus bereits sehr frĆ¼h Hƶrerlebnisse hat, das Ohr also das erste Sinnesorgan ist, das entsteht. Seine neurologischen Studien erhƤrten das oben Genannte: Zuerst wird im Menschwerdungsprozess das Innenohr ausgebildet mit dem Vestibularsystem. Die ersten NervenstrƤnge, die sich entwicklungsgeschichtlich im Retikularsystem, dem ā€žUrhirnā€œ, einer Grundstruktur des Nervensystems einlagern, stehen mit Statik und Bewegung im Zusammenhang. Sie sichern dem Tier ein immer geschmeidigeres Fortbewegen durch RĆ¼ckmeldung von der Peripherie durch Muskeln, Knochen, Gelenken, BƤnder. Dadurch wird fĆ¼r Informationsfluss zwischen den verschiedenen Zellen und Zellgruppen gesorgt. ā€žDie funktionelle Einheit des Ganzen ist auf Austauschprozesse, auf Kommunikation und folglich auf das Horchen ausgerichtet.ā€œ (Tomatis in ā€žDer Klang des Lebensā€œ)

Wie das Ohr, so haben auch die anderen Sinnesorgane neben ihrer Antennenfunktion eine elementare Bewegungskomponente. Als Kennerin der SƤuglingsentwicklung beschreibt Bonnie Cohen es so: Nach dem Vestibularnerv entwickelt sich das Nervenpaar in und um den Mund fĆ¼rs Saugen und Schlucken. ā€žDer Mund ist also auch die erste ExtremitƤt zu suchen, zu greifen, ja oder nein zu sagen, festzuhalten und loszulassen. Es ist die erste ExtremitƤt, die in den Raum vorstĆ¶ĆŸt. Diese Bewegungen bilden die Basis fĆ¼rs Essen und spƤter fĆ¼r die Sprache.ā€œ Hƶrorgan und Stimmapparat sind eine funktionelle Einheit. Danach entwickeln sich die restlichen Wahrnehmungsorgane. Im Uterus sind die Augen zunƤchst in Beziehung zur Bewegung als vestibulare Funktion aktiv und verknĆ¼pfen sich eng mit ihr. Nach der Geburt werden die Augen meist nur nach ihrer SehfƤhigkeit bewertet. Die frĆ¼he enge Beziehung zur Bewegungsorganisation der WirbelsƤule und der Wahrnehmung von Bewegung, wie sie nur wissende Lehrer des somatischen Lernens einbeziehen, wird oft vƶllig ignoriert. ā€žWenn die beiden Augen nicht koordiniert sind, dann ist es in seiner Wurzel ein Bewegungsproblem, bevor es ein visuelles Problem wird.ā€œ (Cohen) Kopfbewegungen bedĆ¼rfen der Anpassung der Augen. Wenn Kopf und Augen unbeweglich wƤren, kƶnnten wir nicht dreidimensional sehen. Erst die Bewegung bewirkt, dass das Abbild auf der Netzhaut dreidimensional erscheint.

Auch der Riechnerv, im Gegensatz zum Geschmacksnerv, der nur fĆ¼nf GrundgeschmƤcker ausmachen kann, auf unendlich viele GerĆ¼che ausgerichtet, entwickelt sich im Gehirn sehr frĆ¼h. Doch die frĆ¼he Anlage wird erst bei der Geburt funktionstĆ¼chtig. Die Anatomin Josephine Moore vermutet, dass die AktivitƤt des Riechnervs mit der Bindung des SƤuglings an die Mutter und ihre Milch zu tun hat. Der Tastsinn kommt dabei mit ins Spiel. Durch den Such- und Saugreflex unterstĆ¼tzt, geht das Baby immer der Nase nach. Der Tastsinn ist von der frĆ¼hesten Wachstumsphase an besonders gut ausgebildet, denn BerĆ¼hrung im Uterus bestimmt durch die taktile RĆ¼ckmeldung durch sich selbst und die wƤssrige Umgebung, durch die Bewegung der Mutter, den Widerstand gegen ihre Organe, durch das Saugen an den eigenen Fingern das Grundmilieu der ersten neun Monate Leben. Die frĆ¼hen Bewegungsmuster und Reflexe des Fetus, die das Potential fĆ¼r die im ersten Lebensjahr selbstƤndig gelernten Wahrnehmungs- und Bewegungsfunktionen bis zum aufrechten Gang schon beinhalten, bereiten auf die Geburt vor und vernetzen den Eigenbewegungssinn mit dem Tastsinn, zugleich synƤsthetisch auch mit allen anderen Sinnen.

Wie wir berĆ¼hrt und bewegt werden von unseren Eltern, bestimmt Ć¼ber die Art, wie wir Muster im Gehirn bilden. ā€žBerĆ¼hrung spielt eine wichtige Rolle im Prozess des Ɩffnens des Kindes zu sich selbst.ā€œ Cohen meint damit nicht eine mechanische Stimulation, sondern offene Kommunikation zwischen zwei Menschen. Da sie Wahrnehmung als ā€žzyklischen Prozessā€œ versteht, gibt es viele Mƶglichkeiten den Kreis zu betreten, um zu lernen und VerƤnderungen zu erlauben. Ein spielfreudiger Dialog in einer empfƤnglichen, fĆ¼r Wahrnehmung offenen Umgebung. Wir entwickeln keine Sprache, bevor wir nicht angesprochen werden. Im Tanz kommt die Contact Improvisation der Echowirkung dieser frĆ¼hen Bewegungs-Tast-Erfahrung sehr nahe. Sie knĆ¼pft an das Vertrauen und die Kraftentwicklung dieser Zeit an durch das Wechselspiel der Wahrnehmung zwischen innen und auƟen, tragen und getragen werden, bewegen und bewegt werden, berĆ¼hren und berĆ¼hrt werden, Gewicht geben und nehmen. Von Minute zu Minute wechselt der Fokus vom Raum zum Partner, vom Fallen zum Fliegen, zum UnterstĆ¼tztwerden.

Einer, der dieses Zusammenspiel zwischen den Sinnen und der Entwicklung des Selbstbildes frĆ¼h formulierte, war der Anthroposoph Rudolf Steiner. Er unterschied die Sinne ganz unorthodox: Ichsinn, Gedankensinn, Wortsinn/Sprachsinn, Gehƶrsinn, WƤrmesinn, Sehsinn, Geschmackssinn, Geruchssinn, Gleichgewichtssinn, Bewegungssinn, Lebenssinn, Tastsinn. Ein Sinn ist in seiner Sicht ā€ždas, wodurch wir uns eine Erkenntnis verschaffen ohne Mitwirkung des Verstandes.ā€œ Der SozialpƤdagoge Christian Rittelmeyer betrachtet in seiner ā€žPƤdagogischen Anthropologie des Leibesā€œ Steiners ā€žSinnesspektrumā€œ, also die intersensorische Wahrnehmung zu betrachten, als wegweisend, um auf denkbare VerknĆ¼pfungen sinnesphysiologischer mit anthropologischen Aspekten aufmerksam zu machen. Ein Beispiel: ā€žDas ā€šSehenā€˜ ist immer eine SynƤsthesie mindestens von eigentlichem Sehsinn und kinƤsthetischem sowie vestibulƤrem Sinn.ā€œ Steiner betont, dass die Wahrnehmung eines ƤuƟeren Objektes immer Ć¼ber innere Sinne gesteuert wird und dabei die Wahrnehmung des eigenen Kƶrpers und seiner Lage im Raum einschlieƟt. Beide EindrĆ¼cke flieƟen zusammen im ā€žAuƟeneindruckā€œ.

Senden und Empfangen, Erkunden, Abtasten und EinschƤtzen des GespĆ¼rten, Gehƶrten, Gesehenen, Gerochenen und Geschmeckten ist ein komplexes Geschehen. Isolieren kann man die WahrnehmungsvorgƤnge nicht. Wissen-schaftliche Forschungen scheinen in die NƤhe dieser Erfahrungsweisheit zu rĆ¼cken. So zeigen sie, dass der Gleichgewichtssinn zwar sein Organ im Vestibularsystem hat, ebenso jedoch Ć¼ber den visuellen, akustischen und somato-visceralen Sinn gesteuert wird, also die Rezeptoren in den BlutgefƤƟen, wie Rittelmeyer betont. Der klinische Psychologe Dieter Vaitl zeigt, dass das cardio-vaskulƤre System nicht nur stetig durch das Hirn wahrgenommen wird, sondern umgekehrt auch Wahrnehmungsorgan ist: Es gibt also eine Wahrnehmung der Herz- und KreislauftƤtigkeit, aber auch ein wahrnehmendes Herz. (Vaitl ā€žFrom the heart to the brainā€œ). Der Zusammenhang von Sprache und Motorik ist vielfach beschrieben worden und als grundlegender Lernfaktor zwar anerkannt, aber in unser Schulsystem nicht genĆ¼gend integriert. Man entwickelt keine Sprache, bevor man nicht angesprochen wir. Auch das Sehen bereichert sein Spektrum durch andere Sinne. KinƤsthetischer und vestubulƤrer Sinn sind daran beteiligt. Die Muskelrezeptoren der HalswirbelsƤule, des Gleichgewichtssinns und des Auges in seiner Doppelfunktion Wahrnehmen/Bewegen sind im Zentralnervensystem aufs Engste verknĆ¼pft.

Der Arzt Kurt Mosetter beweist, dass seine fĆ¼r die Myoreflextherapie entwickelten ā€žBlickā€œ-Ɯbungen, in dem sie die unwillkĆ¼rliche muskulƤre Aktion des Auges von der Funktion des Sehens trennen und bewusst machen, immer auch das Gleichgewicht und die HalswirbelsƤule mit regulieren. ā€žDas visuelle System, das Gleichgewichtssystem und das neuro-muskulƤre Bewegungssystem sind auf das engste miteinander verschaltet und stets miteinander komplex in Funktion. Im Sinne von Aufmerksamkeitsverhalten, Orientierungsverhalten und Handlungsmustern in eine antizipierte Zukunft sind sie sehr fein aufeinander abgestimmtā€¦ Das Gleichgewichtssystem hat fĆ¼r die Koordination und Steuerung des Auges die Aufgabe, immer ein aufrechtes Bild entstehen zu lassen und das Bild zu stabilisieren und zu halten.ā€œ Nervennetzwerkstrukturen dieser Art arbeiten also von ihrem Organisationsprinzip her parallel in weit verzweigten, global verschalteten Aktivierungsmustern. ā€žDie Areale im Frontallappen, die die Kontrolle der Aufmerksamkeit leisten, sorgen dafĆ¼r, dass unser Rumpf mit der WirbelsƤule, dann unser Kopf und schlieƟlich unsere Augen sich einem Objekt von Interesse ā€šzuwendenā€˜ kƶnnen ā€“ letztendlich ist es der Gesamtorganismus, der sich auf seine Umwelt richtet. Damit wird sehr deutlich, wie notwendig die Integration von anderen Sinnessystemen und von den motorischen Zentren fĆ¼r eine Netzwerkarchitektur sind.ā€œ ( Mosetter in ā€žDie Sprache des Kƶrpersā€œ)

Die Stammesgeschichte zeigt ja dieses synƤsthetische Potential. FĆ¼r uns ist es selbstverstƤndlich, dass die meisten Sinne ihren Sitz paarweise im Kopf haben, nah beim Gehirn und nah beieinander, um die Schaltwege zu verkĆ¼rzen. Das betrifft auch die GroƟfamilie der Wirbeltiere, die mit dem Kopf voran den Reizen der Umwelt begegnet. Eine Ausnahme machen die Seeigel, Seesterne und Quallen, deren Fangarme in kreisfƶrmiger Symmetrie angeordnet sind, Ć¼ber deren Ende sie wahrnehmen und greifen. Diese QualitƤt der radialen Symmetrie kann auch beim SƤugling kurz vor und nach der Geburt beobachtet werden. Seine Bewegung wird vom Nabel und damit der Kƶrpermitte bestimmt und strahlt in alle Richtungen in alle Glieder, auch zum Kopf und zum SteiƟbein aus. Auch Insekten, neben den Wirbeltieren die hƶchst entwickelten Lebewesen, gruppieren ihre Ohrwerkzeuge an ungewohntem Ort: bei Feldheuschrecken und Nachtfaltern an der Brust, bei Zikaden am Hinterleib, bei Grillen an den vorderen Unterschenkeln. Da macht Cohens Praxis, jeder einzelnen Zelle die FƤhigkeit zuzuschreiben, ihren eigenen Lebensprozess von Atmung, Verdauung, Ausscheidung, Bewegung und Austausch zu anderen Zelle zu verinnerlichen und zu erfahren, durchaus Sinn. Keiner der Neurowissenschaftler kann heute prƤzise sagen, wie hƶherer Hirnareale oder seelischer QualitƤten generiert werden. Natur- und Geisteswissenschaften, frĆ¼her eher verfeindet, rĆ¼cken bei dem Versuch, dem Mysterium auf die Spur zu kommen, enger zusammen.

Die SynƤsthesie der Sinne beschƤftigte kĆ¼rzlich auf einem Kongress der Medizinischen Hochschule Hannover Neurowissenschaftler, Psychologen, Psychiater und Philosophen. Dort versuchte man gemeinsam das PhƤnomen zu entschlĆ¼sseln, warum Menschen ā€“ vor allem Frauen und KĆ¼nstler ā€“ Musik nicht nur hƶren, sondern auch sehen, Schmerzen visuell wahrnehmen, Worte riechen oder eine bestimmte Tonart als Seifengeschmack einordnen kƶnnen. Rimbaud, Kandinsky und Skrjabin waren die berĆ¼hmtesten unter ihnen. Dass die Hirnphysiologie sich bei SynƤsthetikern dramatisch von der ā€žnormalerā€œ Menschen unterscheidet, ist nun belegt, auch, dass das limbische System als Integrator von GefĆ¼hlen dabei eine wichtige Rolle spielt. So hofft man dem Geheimnis des Bewusstseins einen Schritt nƤher kommen zu kƶnnen.

erschienen in ballet tanz Heft 8/9 2003